PRESSE:

 

FK 11. April 2014

Der Laut macht die Musik

Dieter Roth: Murmel (Deutschlandradio Kultur/SWR 2)


Bei wie vielen Hörspielen hat man sich schon gewünscht, dass zugunsten von Musik, O-Tönen, Atmosphären oder Sounddesign auf die Texte verzichtet worden wäre? In seiner Zeit als Hörspielchef beim Hessischen Rundfunk (HR) hat Christoph Buggert das einmal gewagt, nämlich als er Alfred Behrens und Norbert Jochums Eisenbahnstück „Locomotion“ aller Texte entkleidete, um daraus einen „akustischen Film“ zu machen. Bei dem Stück „Murmel“ nach einem aus dem Jahr 1974 stammenden Theatertext des bildenden Künstlers Dieter Roth (1930 bis 1998) wäre solch eine Entwortung grob fahrlässig. Denn der komplette 176-seitige Text besteht nur aus einem einzigen Wort: „Murmel“. Sechs Buchstaben, eine Lautverbindung aus zwei Silben. Fremdtexte nicht zugelassen. Seit Regisseur Herbert Fritsch es 2012 an der Berliner Volksbühne aufführte, ist das Stück ein Hit für Freunde übertriebener Gesten, schriller Kostümierung und des Slapsticks.

Die zwangsläufig bilderlose Radiobearbeitung des Konzepts durch die koreanischstämmige Hörspiel- und Featureautorin Grace Yoon folgt musikalischen Regeln und setzt auf die sprechtechnischen vokalen Möglichkeiten ihres Ensembles (Martin Engler, Meike Schmitz, Hans Peter Hallwachs, Arne Fuhrmann, Linda Olsansky, Bo Wiget und die Capella Vocale aus München). Der menschliche Artikulationsapparat vermag weitaus mehr Vokale zu bilden als a, e, i, o und u, und wer gemeint hat, dass Murmel nur zwei enthalte, hat sich getäuscht. Vom u über den Diphthong ou (Mourmel) oder den Hiatus ua (Muarmel) bis zum Koloratur-a ist der Weg kürzer, als man denkt. Von hinten rollt ein r über die Zungen und dialektale Einfärbungen, Sprachduktus und Sprachmelodie tun ihr Übriges. Vom Röhren bis zum Singen reichen die artikulatorischen Möglichkeiten, und wenn man das Murmelmotiv nach kompositorischen Regeln durchdekliniert wird daraus im Krebsgang „lemruM“. So umgeht man ironisch die strengen Regeln des Autors, ohne sie zu brechen.

Die Beschränkung auf ein zweisilbiges Wort, das einen unspezifischen Sprechakt meint, der zwischen Bedeutungslosigkeit und Beschwörung schwankt, wird zu einem Moment der Freiheit. Anders als Joseph Beuys’ Performance „Ja Ja Ja Ja Ja, Nee Nee Nee Nee Nee“ von 1968, die 64 Minuten lang einem sprachlichen Minimalismus aus Repetition und Variation huldigt, ist in Grace Yoons nur 45 Minuten langer Hörspielinszenierung das Sprachmaterial offen für verschiedenste Zuschreibungen. Nicht die Wörter machen den Dialog, nicht die Sätze formulieren eine Handlung, es sind die Laute, die die Musik (und gegebenenfalls die Szene) machen. Mehr Libretto als das Wort Murmel braucht es nicht.

Nichtvokale Geräusche sind nur zur Abrundung der Inszenierung da. Eine Art akustische Schiebeblende deutet den Wechsel von einem musikalischen Satz zum nächsten an. Streicher, die von Ferne an die Cello-Punks der finnischen Band Apocalyptica erinnern, sorgen für eine klangliche Grundierung und ein paar Tastaturanschläge als Akzente reichen völlig aus. Denn die interpretatorischen Möglichkeiten vom performativ gemurmelten Stimmengewirr bis zu chorischen Gesängen, von der Rhythmisierung bis zur szenischen Auflösung sind so vielfältig, dass sie ein bedeutungsvollerer Text erst einmal aushalten müsste.

Das „langweiligste Theaterstück der Welt“, das Dieter Roth vorschwebte, ist dabei natürlich nicht entstanden, sondern ein Radiostück, das – trotz bzw. genau wegen seiner Restriktionen – leicht und spielerisch den doppelten Imperativ erfüllt, mit dem Friederike Mayröcker und Ernst Jandl die radiophone Kunst definiert haben: „Hör!Spiel!“ Und weil es in Murmel in der Hauptsache um gesprochene Sprache geht – ohne die „Hörspiel“ dasselbe bedeuten würde wie „Musik“, ist „Murmel“ natürlich ein echtes Hörspiel, auch wenn es auf den Klangkunstterminen der beiden koproduzierenden Anstalten Deutschlandradio Kultur und Südwestrundfunk (hier bei SWR 2) lief, wo es online weiterhin abrufbar ist.

11.4.14 – Jochen Meißner/FK


 

14. März 2014

Die Onlineausgabe der Kulturzeitung der Bayerischen Theaterakademie

Kritik: „Murmel“ im Deutschlandradio Kultur

Dieter Roth experimentieren mit akustischer Ordnung und lautmalerischem ChaosDieter Roths „Murmel“, inszeniert von Grace Yoon (auch SWR 2, 1. April, 22.03 Uhr). Gegen Ende hört man eine Frau auf Russisch zählen, bis dahin besteht das Stück aus der immerwährenden Wiederholung des Wortes Murmel. Ein schwieriges Wort, wenn man es laut ausspricht, eines, an dem man leicht hängenbleibt, bei dem man sich schnell einmal verhaspelt. Einer der kürzesten Zungenbrecher der deutschen Sprache. Die sechs Schauspieler Martin Engler, Meike Schmitz, Hans Peter Hallwachs, Linda Olsanwsky, Bo Wiget und Arne Fuhrmann packen dieses Wort hart an: Sie brüllen und wispern es, dehnen und komprimieren es, zelebrieren und zernichten es. Aus einem einzigen Wort erwächst hier eine rhythmische, musikalische Struktur, die aber unentwegt bedroht ist – ein Haspeln, ein Zögern, und alle Ordnung wäre, zumindest fürs Erste, dahin. Wie es Murmeln eigen ist, wenn man mit ihnen spielt, so rollt und klackert auch das Wort, das diese kleinen Glaskugeln bezeichnet, durch das Hörstück, erzeugt einen meditativen Sound. Wobei Dieter Roth und Grace Yoon die Hörer wenn überhaupt nur kurz einlullen; nur als Hinführung zu einer Pointe, einer Überraschung, einem neuen Spannungsmoment. „Murmel“ ist reduzierter Dadaismus. Oder: semantischer Sound.

Stefan Fischer On 14. März 2014

 

 

epd medien 2008

Die verrückte Freundin „Pannonika. Die Jazzmusiker und drei Wünsche“
Regie und Buch: Grace Yoon (SWR 2, 30.5.08)

Eva-Maria Lenz
14.06.2008

 

„Which three wishes do you have? Schon die Frage klingt vielversprechend, im Märchen wie im Leben. Pannonica, die gute Fee der Modern-Jazz-Szene, stellte sie im New York der sechziger Jahre dreihundert einschlägigen Musikern, die sie im Alltag fotografiert hatte, und sammelte deren Antworten. Ihren eigenen größten Wunsch, daraus eine Art Grundlagenwerk zu machen, ein Who is who der Avantgarde des Bebop, konnte sich Pannonica, Baronesse de Koenigswarter geborene Rothschild, indessen sich erfüllen. Trotz ihrer Beziehungen interessierte sich damals kein Verlag dafür.

Erst 2006 edierte ihre Enkelin Nadine das nachgelassene Konvolut in Paris aIs „Les musicians de Jazz et leur trois voeux“, im vorigen Jahr fand „Die Jazzmusiker und ihre drei Wünsche“ (Stuttgart, Reclam-Verlag) in Deutschland Beachtung. Jetzt steigert die in München tätige koreanische Soundexpertin Grace Yoon diese Resonanz ohrenfällig: lhr Hörstück „Pannonica“ erweckt vieles, was da zwischen den Buchdeckeln schlummert, hinreißend wieder zu Klang und Leben.

Dazu trägt auch Leslie Malton mit einer Dopplerolle bei. In dem dreisprachigen Stück (franzöisisch, englisch, deutsch) skizziert sie zum einen als Nadine de Koenigswarter deutsch die Lebensstationen Pannonicas(1913-88), und zum anderen spricht sie, stimmlich differenziert, Pannonicas englischen Part. Durchweg profitiert Yoon davon, dass der Bebop – nach dem orchestralen Swing der früheren Jahre - die Jazzsolisten zum Zug brachte, so den Pianisten Thelonious Monk, dem Trompeter Miles Davis oder Saxophonvirtuosen wie Charlie Parker und John Coltrane. In Yoons zitatenreicher Text- und Musikmontage geben immer wieder Pianoimprovisationen des Bebop-Pioniers Monk den Ton an, mit dem und dessen Familie Pannonica besonders befreundet war. In Bahn zieht die Leichtigkeit seines so voraussetzungsreichen Spiels, das Klangfarben der ganzen Klaviatur rhythmisch Kühn auskostet.

Mit den drei Wünschen Monks (englisch: Monty Waters, deutsch: Stefan Hardt) beginnt das Hörstück. Lachend und mit rauher Stimme wünscht er „to be successful, to have a happy family, to have a crazy friend like you“. Das alles habe er doch schon, insbesondere sie aIs verrückte Freundin, meint daraufhin Pannonica. Natürlich konnte diese bizarre Fee nicht jedem der Interviewten alle drei Wünsche erfüllen, doch jedenfalls hat sie lhre drei Energiequellen für ihre Schützlinge genutzt: ihren Kunstverstand, ihre Tatkraft und ihr Geld.

Beispielsweise konnte Pannonica die Sehnsucht des großen Miles Davis,“weiß zu sein“ nicht stillen, doch dazu beitragen, sie überflüssig zu machen. Denn beharrlich kämpfte sie gegen Rassendiskriminierung, etwa indem sie Monk auf Tourneen in die Sudstaaten begleilete und dort mit ihm und anderen Farbigen öffentlich auftrat. Dieser unerschrockenen Muse und Mäzenin haben Jazzmusiker gut zwanzig hier zitierte Titel gewidmet, darunter Monks „Pannonica“.

Yoons Stück listet, gleich der Buchvorlage, Pannonicas oft abenteuerliche Lebensstationen und -entscheidungen auf, fern davon, darüber zu reflektieren. Der jäheste Einschnitt war, dass sie Familie und Ehemann, mit dem sie fünf Kinder hatte und in der Resistance jahrelang gegen die Nazis zusammenarbeitete, Anfang der fünfziger Jahre in Mexico verließ.
Welche Beweggründe trieben sie dazu?

Yoon argumertiert rein akustisch mit unwiderstehlichen Musikzitaten aus New York. Doch hat die Methode Grenzen. Sie sucht nicht Tiefenschärfe, sondern die Legende, die sie allerdings beträchtlich erweitert. Bislang kannten wir diese Mäzenin vor aller aus Clint Eastwoods Film „Bird“, als Ietzten Engel des drogensüchtigen Genies Charlie Parker, der 1955 in Pannonicas Suite im Stanhope-Hotel starb. Nun erscheint die Jazzheilige Pannonica in einem suggestiven Klangpanorama von neuer Vollständigkeit.


Frankfurter Rundschau online 2004

HÖRTIPP: DIE LEHREN DES SUFISMUS

Das Herz duftet nur, wenn es brennt
"Worte bleiben an der Küste - Der Weg des Sufismus", Dienstag auf Mittwoch, 0.05 Uhr Deutschlandradio Berlin.
VON JUTTA HEESS

Für Laien klingt es lustig und lädt zu albernen Assoziationen ein: Sufismus. Sufismus? Noch nie gehört? Der Sufismus ist ein Teilaspekt der islamischen Mystik, der bereits in der frühen Zeit des Islam entstanden ist. Der Begriff Sufismus oder die Bezeichnung für seine Anhänger, die Sufis, kommt vom arabischen Wort für Reinheit. Aber Worte sind ja Schall und Rauch, würde ein Sufi heute sagen, mystische Erfahrung kann man doch eh nicht analysieren. Daher rührt das Sprichwort und gleichzeitig der Titel der Sendung: "Worte bleiben an der Küste."

Besser gewählt könnte der Zeitpunkt nicht sein, zu dem das Hör-Stück gesendet wird. In einer Phase, in der hier über Integrationspolitik und Islamismus heftig diskutiert wird, zeigt die Autorin und Performerin Grace Yoon die aufgeklärte und tolerante Seite des Islam in allen Facetten. In knapp 55 Minuten weist sie mit Hilfe von Experten dem Hörer den Weg durch die Gedankenwelt des Sufismus, in der Zeremonien und Gesänge eine ganz wichtige Rolle spielen.

Die Musik bekommt man dann auch immer wieder zu hören, zwischen geschichtlichen Erklärungen, Aussagen von Experten und Zitaten von sufistischen Poeten ("Das Herz ist wie ein Räucherwerk, nur wenn es brennt, duftet es.") Ein lebendig untermaltes Lehrbuch des Sufimus zum Anhören, nicht nur für seine Anhänger. Grace Yoon ist für ihre Sendung bereits mit dem Hörspielpreis "Prix Marulic" ausgezeichnet worden.

Empfang: www.dradio.de/dlr/freq, Kabelfrequenz Rhein-Main: 90,10 MHz.

 

[ document info ]
Copyright © Frankfurter Rundschau online 2004
Dokument erstellt am 13.12.2004 um 17:04:14 Uhr
Erscheinungsdatum 14.12.2004

 

 

 

FAZ, 4. Februar 1999

Feuilleton

Ödipus Fantasie - SWR 2

(Radio Art)

Hörspiel von Grace Yoon Mit Texten von Ingeborg Bachmann, Sophokles und aus dem Tibetanischen Totenbuch Mit Blixa Bargeld, Palden Tawo, Walter Laugwitz, Kornelia Boje, Benjamin Reding, Margarete Huber, Ute Kannenberg und Elisabeth Tuchmann. Musik: Ensemble Muchon, The Gyuto Monks und Blixa Bargeld

 

Der mit den Mönchen singt

Siebenfach geprüft: Die "Ödipus Fantasie" von Grace Yoon

Sophokles, Voltaire, Loriot: das ist wahrlich keine schlechte Autorenmischung für eine ziemlich angegraute Geschichte. Vom antiken Drama um Ödipus über das gelehrte Aufklärungsstück bis hin zum deutschen Lustspiel "Ödipussi" tritt der Titelheld als tragische Figur, dann als Gewaltmensch und schließlich als Muttersöhnchen in Strickjacke auf. Der mythologische Grundstoff kennt kein Erbarmen mit seinen Protagonisten. Nachdem Ödipus den Vater getötet und die Mutter geehelicht hat, treibt ihn die Erkenntnis dieser Untaten dazu, sich selbst zu blenden. Und seit Sigmund Freud sich der Erzählung annahm und ihre Hauptfigur auf die Couch legte, wurde ein psychoanalytisch definierter Seelenzustand nach ihm benannt - Ödipus schien gründlich analysiert, interpretiert und kategorisiert. Bloß interkulturell umgedeutet wurde er bislang noch nicht. Dies besorgt nun die Koreanerin Grace Yoon. Wenn sie den blinden Ödipus durch den Hain von Kolonos wandern lässt, dann singt ein buddhistischer Mönchschor gutturale Weisen. Der ehemalige Star der Rockband "Einstürzende Neubauten", Blixa Bargeld, betätigt allerhand exotische Instrumente und darf in der Rolle der Hauptfigur am Anfang des Stücks einem Computer sein Codewort anvertrauen: "Ödipus". Und wenn er dann am Ende, nachdem eine blecherne Stimme immer wieder die Formel "http://www.ödipus.de" gemurmelt hat, wenn er zum triumphalen Finale des Stücks also einen Garten voller Vogelgezwitscher betritt, dann wird deutlich: Während Buddha über den Hain der Erinnyen wacht, vollzieht Ödipus das fernöstliche Totenritual Bardo und gelangt ins Paradies. Irgendwie spielt auch das elektronisch-globale Nirwana des Internets mit hinein, und alles wird gut. Koreanische Performance-Künstlerin trifft deutschen Avantgard-Rocker, greift einen griechischen Urtext auf und vermischt ihn mit Passagen aus Gedichten Ingeborg Bachmanns und dem Tibetanischen Totenbuch - welch ein Wirrwarr. Und dennoch haben wir es mit einem ungemein konzentriert komponierten Hörspiel zu tun, das sich keineswegs in politisch-korrekten Multikulti-Botschaften erschöpft: Von der Atemlosigkeit des getriebenen, geschmähten Ödipus der ersten Szenen bis hin zum arkadischen Finale im Jenseits beziehungsweise im Internet fügt Yoon Fragmente verschiedener Kulturen nur für ein Ziel zusammen - etwas ganz und gar Eigenes zu schaffen. An der Londoner Academy of Arts hat Grace Yoon Kunst und Performance studiert, vor allem in Deutschland hat sie Musiktheaterstücke und Filme inszeniert. Auch wenn sie als Spezialgebiet "Klangrituale und Sprachrhythmen" nennt, so beziehen ihre Hörspiele aus dieser Arbeit mit Bewegung, Tanz und Bildern eine besondere choreographische Dimension: Ödipus wirkt mitunter wie umstellt von Chören, die die Verse des Sophokles und ein Bachmann-Poem in einem an- und abschwellenden Singsang rezitieren. Die Musik, die außer von Blixa Bargeld vom "Ensemble Muchon" und "The Gyuto Monks" stammt, dient nicht dazu, diese Texte dezent zu untermalen. Lautstark reißen diese Kompositionen große Klanghorizonte auf -die Akteure müssen sich vor gewaltigen akustischen Kulissen behaupten, die von elektronischem Orgeln bis zu fernöstlichem Glockenspiel reichen. Allein aus diesen Klängen errichtet Grace Yoon eine imaginäre Bühne, auf der sich das Drama ihres unschuldig schuldig gewordenen Helden abspielt. In sieben Schritten, vollzogen in jeweils sieben Minuten, muss der Vatermörder und Liebhaber seiner eigenen Mutter in diesem tönenden Theater eine siebenfache Prüfung durchleiden: Er durchschreitet den Raum, das Wasser, die Erde, das Feuer, die Luft und den Regenbogen, bevor er zuletzt das Jenseits erreicht - und über jedem dieser Elemente thront ein Buddha. Das delphische Orakel und das Totenbuch der Tibeter, der Mythos vom Tod des Ödipus und fernöstliche Bestattungsrituale, die Metren des Dichters Sophokles und die Rhythmen des Mönchchors: überall deckt Grace Yoon Berührungspunkte zwischen den Religionen und Überlieferungen auf. Wie bereits ihre vielfach preisgekrönte akustische Performance "Tunguska-Guska" präsentiert sich auch ihr neues Stück als eine Art philosophisches Traktat mit auschließlich akustischen Mitteln. Wagemutig voller Neugier überschreitet diese Stück die gewohnten Hörgrenzen; mitunter ist es spirituell versponnen - in jedem Fall aber einzigartig in der zeitgenössischen Hörspiellandschaft.

 

Frank Olbert

 

 

du Februar 1999

Ödipus Fantasie

Nsistor

Dass Ödipus als Topos nicht nur ausschließlich für die neuzeitliche, westliche Geistesgeschichte Geltung besitzt, sondern ebensogut für die östliche, bringt die Koreanerin Grace Yoon spielend zu Gehör.

"Verfolgter: Die Fahrt ist zu Ende, doch ich bin mit nichts zu Ende gekommen, jeder Ort hat ein Stück von meinen Lieben genommen, jedes Licht hat mir ein Aug verbrannt, in jedem Schatten zerriss mein Gewand..."

Radioart Hörspiel-Studio Ödipus Fantasie Hörspiel von Grace Yoon, mit Texten von Ingeborg Bachmann, Sophokles und aus dem Tibetanischen Totenbuch

 

Mitarbeit:

Michael Wagh

Musik Ensemble Muchon, The Gyuto Monks und Blixa Bargeld

Regie Grace Yoon

Produktion SWR / WDR 1998

 

Das Drama des Ödipus, der dem Schicksal des Orakels nicht entkommt und seinen Vater erschlägt und die Mutter zur Frau nimmt, wurde häufig erzählt. Von Sophokles zuerst, von Seneca, im 18. Jahrhundert von Voltaire, im 19. von Hofmannsthal, im 20. von André Gide und Pasolini. Seit Freud ist die Figur endgültig ein Topos der neuzeitlichen, westlichen Geistesgeschichte. Die Koreanerin Grace Yoon nähert sich dem Stoff aus der Perspektive des Ostens. Sie verwendet Texte von Sophokles, Ingeborg Bachmann und aus dem Tibetanischen Totenbuch und schildert die Wanderung des geblendeten Ödipus durch den Hain bei Kolonos als Weg durch das buddhistische Baedo, ein Totenritual, das den Toten ins Jenseits geleitet.


 

Radio-Tagebuch Naturwunder, linksdrehend

Das fängt ja gut an:

"Tick-Tack"

von Grace Yoon (SFB / ORB 1999)

Der charmanten Konfusion der Ankündigung konnte man sich nicht entziehen: "Das platonische Jahr dauert 25920 Erdenjahre. Traumzeit misst man in Millisekunden. Realzeit? Sommerzeit trifft Winterzeit, biologische Zeit sieht Zeitgeister und Zeitzeugen. Diese Hörzeit ist der vierten Dimension gewidmet. Hören bedeutet Zeit haben: "If you don't cut the time, time will cut you." Bei der Lektüre spürten wir eine gewisse Benebelung in uns aufsteigen, einen süßen Rausch, der nach mehr verlangte, nach dem, um im englischen Sprachgebrauch zu bleiben, real thing. Und als eine Kassette aus Berlin unseren Briefkasten erreichte, ging es glich los, ein erstes Hineinschnuppern ins Radio des dritten Jahrtausends.

Grace Yoon hält, was ihre Ankündigung versprach. Mit atemberaubenden Sprüngen dekliniert sie das Thema "Zeit" durch und sprengt dabei selbst noch diesen denkbar weiten Rahmen. Denn was macht das schon? Zeit ist nur Fiktion, die in unserer Vorstellung vom Rest der Welt, dem "Raum", getrennt ist. Alles hängt irgendwie zusammen und warum sollte ein Ökowinzer nicht über die vierte Dimension philosophieren dürfen. Kundig entführt er uns erst auf seine lunar geeichten Weinberge und anschließend in dunkle Wälder: Der Blitz, und jeder Förster werde uns das bestätigen, schlage nur in "linksdrehende" Bäume ein

. So finden wir uns sanft in die unendlichen Weiten mythischen Denkens überführt, für das Grace Yoon schon immer eine Schwäche hatte. Wir sind bereit für referierte LSD-Erfahrungen, für die Empfindung, dass die Zeit sich "ineinander schlingt", sowie auch für Zauberformeln aus der Welt der Wissenschaft, die an ihren Grenzen ja immer auf Mythologie stößt. An diesen Schnittstellen entstehen betörende Sprachgebilde wie "quantenmechanische Streuung im Überraum".

Doch die Worte sind gar nicht so wichtig bei dieser Komposition. "Tick-Tack" ist vor allem ein Hörerlebnis. An ihrer Klangorgel hat Grace Yoon alle Register gezogen, um aus dem in Abstraktion verpuffenden Begriff "Zeit" ein Sinnenerlebnis abzugewinnen. Um die Gegenwart erlebbar zu machen, packen uns rhythmische Laute immer wieder direkt an unserer biologisch vorgegebenen Taktung. Manches Geräusch - wie das Rattern eines Filmprojektors - erkennen wir wieder, bei anderen klappernden Sensationen reicht es aus, sich die folkloristischen Instrumente selbst auszumalen. Auch die regelmäßig zugespielte Popmusik kommt natürlich daher. Und wenn die Aufnahmen knistern und knastern, umso besser, denn so bezeugen sie die Spannung zwischen Gegenwart und Vergangenheit, die sich im Menschen als Nostalgie niederschlägt. Das intensivste Erlebnis war für den Probehörer allerdings ein Stück in digitaler Qualität, das ihn unvorbereitet in ein tiefen Abgrund im Raum-Zeit-Kontinuum zog. Urvertraute Töne aus der längst überwunden geglaubten Welt der achtziger Jahre erklangen, ein Lied, das schöner wird, je weiter es sich entfernt: "Time after time", die stille Ballade der sonst so flippigen Cyndi Lauper - Da spürten wir sie deutlich, die Zeit. Sie verursachte Heimweg.

Hörpralinen dieser Art gab es noch mehr, lyrische Augenblicke, Geräusche und Musik. Wir empfehlen all jenen, die die Neujahrsnacht im Sendegebiet von SFB und ORB verbringen, bereits am Silvesterabend ein Empfangsgerät neben dem Bett zu deponieren. Wer am Neujahrstag gegen Nachmittag erwacht, kann so das schmerzhafte Tageslicht meiden, sein Radio blind ertasten und einschalten. Tiefer braucht man nicht wieder einzudringen in die harsche Realität, deren Zahlen- und Zeitenmagie allenthalben Millenniumsbrummschädel heraufbeschwört. In dieser Verfassung ist Grace Yoons Hörkarussell "Tick-Tack" genau das Richtige. Klaus Ungerer

 

 

earborn

Jazzpodium, Oktober 1996

Greetje Bijma, Trinovox und Albert Kuvezin

Earborn - Audio Art by Grace Yoon und Roman Bunka
Jaro Medien 4190-2

 

"An sich sind die Engel durchsichtig"... "La pace, poi il silenzio"... "Als die Engel sangen und spielten, geriet die Seele außer sich vor Freude"…" Aus verständlich rezitierten Texten in deutsch, englisch und italienisch und Klangprozessen, die allein mit der Stimme erzeugt werden, entsteht ein Stück, eine Idee, die das "Ersingen der Seele" hörbar machen will. Die Texte stammen aus der Schöpfungsgeschichte des Mystikers und Musikers Hazrat Inaya Khan, von Theodor Fechner aus der "Vergleichenden Anatomie der Engel" und aus Gedichten des 922 in Bagdad hingerichteten Sufis al-Halladsch wie aus einer Geschichte des Taoisten Tschuang Tsu. Urlaute scheinen die Entstehung des Menschen zu symbolisieren, tiefste mit der menschlichen Stimme produzierbare Töne entwickeln sich und erinnern an die tiefen Töne tibetanischer Mönche, darüber entwickelt die weibliche Stimme weite Kantilenen - brodelnder Urzustand? In "Scolopendra", dem zweiten Stück der CD, musizieren die Männerstimmen eine Orchesterbegleitung mit metrischen, rhythmischen und akkordischen Strukturen, über denen die Frauenstimme den italienischen Text in großer Wärme ausbreitet - von diesem Stück geht eine besondere Faszination aus, da man zudem kaum glauben kann, dass alle Klänge allein von den Stimmen erzeugt werden. Geräuschhaft wird es dann im dritten Stück, mit "Ruhe" betitelt. Kaum erhörbar der Text zu Beginn, dann ein Sprachspiel zwischen Englisch, Deutsch und Italienisch: "Als die Engel sangen und spielten, geriet die Seele außer sich vor Freude, noch klarer sollte ihr die Musik werden, noch näher, und so schlüpfte sie in den Körper." Die Produzenten dieses unbedingt hörenswerten Stückes nannten es nicht Theater oder Hörspiel, sie meinten, es sei "Audio Art"... etwas zwischen reinem Hören und Bildvorstellung im Kopf des Zuhörers, und damit "Musiktheater in der Phantasie" - so meine ich!

 

Ute Büchter-Römer

 

 

Stuttgarter Zeitung

Koreagrafie

Kunst als Erlösung Die Hörstücke "Koreagraphie" in der Rampe Geräusche, Gesänge und Laute, die zum Konzert, zum Einlang streben, erinnern an die Rituale in tibetanischen Klöstern. Jede Stimme besitzt ihre individuelle Färbung, Ihren individuellen Ort. Es sind die Stimmen des Mansantals, die Stimmen der Menschen, die sogenannte "Miruk"-Steine bearbeiten. Es sind die Steine selbst, die schwingen und Töne erzeugen. Langsam, doch getragen von heiliger Euphorie, entsteht der Berg aus tausend Steinen, mit dem eine irdische Welt des Friedens beginnt. Am Ende werden Klänge miteinander streiten, werden zwei Steine fehlen, mit der Morgenröte werden "der Groll und der Gram kommen". Im Dezember 1993 beschäftigten sich in München 30 Künstler und Künstlerinnen aller Sparten mit der Gestaltung einer koreanischen Legende vom anstehenden paradiesischen "Drachen-Pracht-Reich". Auch die insgesamt eintausend Besucher der Performance im Verlauf von drei Abenden, an denen jeweils eine Variante der Legende entwickelt wurde, trugen mit ihrem akustischen oder visuellen "Miruk"-Stein zur Entstehung eindringlicher Klangformationen bei. Der Bayerische Rundfunk zeichnete seinerzeit diese Varianten auf, schnitt sie und machte daraus drei Hörstücke von jeweils zwanzig Minuten Länge aus Text. Stimme und instrumentalen Eingriffen. Die Hörstücke mit den Titeln "Koreagraphie" eins, zwei und drei konnten am Freitag im Theater Die Rampe über Lautsprecher gehört werden. Die Koreanerin Grace Yoon und der Musiker und Performer Roman Bunka waren nach Stuttgart kommen, um mit kurzen Einlagen die Aufnahmen zu begleiten und zu erläutern. Sie hatten in München Regie geführt, die Legende vorgegeben, den Rahmen gestaltet und eine "Partitur der Improvisation" notiert, eine Licht-Notation in der Tradition von John Cage. Der "Licht-Mann", wie Grace Yoon erklärte, habe die Partitur vor sich gehabt und den Sequenzen durch den Wechsel des Lichts ihre Länge gegeben. Die Legende wird in der Performance kunsttheoretisch interpretiert, erhält allegorische Bedeutung. Die Kraft, die die Welt bewegt, die ein irdisches Reich des Friedens erzeugt, findet sich in den "Miruk"-Steinen, der künstlerischen Phantasie und ihren Artikulationen. Der Kunst fällt die Aufgabe zu, das Drachen-Pracht-Reich zu beschwören. "Die Hoffnung ist in der den ganzen Kosmos umfassenden Phantasie", so lautet das zentrale Postulat dieser Erlösungsästhetik. Es ließe dich darüber nachdenken, ob es sich lohnt, Performances, die sich auf den Augenblick beziehen, aufzuzeichnen. Zumal der Hörfunk die visuelle Seite ausblendet, die Klänge verdichtet, in eine feste Form zwingt und mithin vollkommen verändert. Doch die Fragen treten zurück, ist doch das Stück für sich, als rein musikalisch-textuelle Assemblage ein faszinierendes, höchst suggestives Hörerlebnis. Dieses entwickelt, ähnlich der Programm-Musik, in solchem Maße metaphorische Qualitäten, dass die Legende farbenprächtiges Legen erhält.

Hans-Joachim Graubner

 

 

 

Oper (Schneeball / Faruk Musik)

Tunguska - Guska

Frauenschluchzen - oder ist es Hundegebell? Was ist diese CD - schamanisch? Verrückt? Genial? Exotisch? Archaisch? Ja, all das trifft zu auf dieses vom Bayerischen Rundfunk als Hörspiel produzierte Werk von drei ungewöhnlichen Frauen. Stimmen, Geräusche, Instrumente, Gesang, Rhythmen; abwechselnd, gleichzeitig. Einige Male war ich versucht, die CD herauszunehmen, doch just in jenen Momenten kam wieder etwas überraschendes Neues und hielt mich fest, bis ich mich einfach darauf einließ. Unverkennbar weiblich, fast wie eine Trancereise - einfach magisch, weil der Kopf so verwirrt wird, dass man entweder ihn oder die CD abschaltet. Ich empfehle ersteres. Mehr davon!

Monika Kaminski

 

 

Kritische Rückschau

Mythos und Audio Art Grace Yoon / Sainkho Namchilak / Iris Disse

Tunguska-guska

BR 2

Es war einmal... Es war einmal ein Mädchen Aidys. Sie begegnet eines Tages dem Mann Ivengi, der aus einer fremden Welt stammt und einen Stein in seiner Hand hält. Doch die böse Schamanin gönnt ihnen die glückliche Liebe nicht, das Paar wird getrennt. Die Beziehung zwischen dem Gott und dem Menschenkind zerbricht, eine "Epidemie" fällt über die Erde herein. Am Schluss wird "das Mädchen Aidys zum Falken und fliegt klagend hinter Ivengi her". "Tunguska-guska" ist eine märchenhafte Geschichte, ein Mythos, der von der Frauwerdung eines Mädchens erzählt, vom bösen Prinzip, und in Form einer Legende, wie das Unheil in die Welt kam. Archetypische Symbole und Strukturen tauchen auf, wie sie in vielen Märchen von Völkern, in antiken mythologischen oder biblischen Geschichten bzw. in modernen Literaturversionen ständig neu erzählt werden. So verwundert es keineswegs mehr, wenn eine Koreanerin (Grace Yoon), eine Deutsche (Iris Disse) sowie Sainkho Namchilka aus Sibirien sich treffen, um zusammen ein solches Märchen zu erzählen. Schneegestöber als Geräusch, darüber haucht eine Stimme "Sibiria", Singsang mit Kehlkopfstimme und der akustische Raum eines großen Sackbahnhofes beispielsweise kommen als zunächst scheinbar heterogene Elemente zusammen. Da die archaische Zeit vorüber ist, wo das Versammlen von Menschen am Feuer ein Erzählen als apotropäische Tat gegen die feindliche Natur ermöglichte, haben die drei Künstlerinnen für ihren Versuch, einen Mythos modern zu erzählen, das heute sicher treffendste Medium gewählt: das Hörspiel; nicht zuletzt sicher auch, weil sie sich nur noch vereinzelt auf die präzise, "logische" Struktur der Wort-Sprache stützen, vielmehr für ihren Mythos die weit offenere Erzählsprache klanglicher, rhythmischer und musikalischer Strukturen vorziehen. "Tunguska-guska" wird zum Audio Art-Hörspiel, bei dem sich Inhalt und Form in einer sich spiegelnden Weise ergänzen. Die knappen 60 Minuten Hörspiel bauen sich wie in einer kleinen Oper aus vielerlei einzelnen Sequenzen auf. Es gibt die "Ouvertüre" einer Erzählexposition, die an das sibirische Lagerfeuer anknüpft. Es gibt einzelne "Arien", die von den drei Realisatorinnen mit unterschiedlichen Stimmtechniken gestaltet werden. Percussion-"Einlagen" (Hartmut Geerken und Sunny Murray) und "Kadenzen" für Waterphone, Glocken, Rasseln etc. wechseln mit Klangcollagen, die zwischen realen, aber zum Teil verfremdeten Geräuschen und monotonem Gesang pendeln. Das alles lässt Vorstellungen eines Wort-Hörspiels hinter sich, um als musikalisch-rhythmisches Werk den Hörer für ein ständiges wiederholtes Hören einzunehmen. Wie Ethno-Songs gewinnen einzelne solcher "Nummern" ihre Erzählsprache, wenn beispielsweise nach einem Befehl "Frühling!" aus dem Off, verschiedene Singsang-Stimmen übereinandergelagert sind, aus denen sich nach und nach ein künstlich blechern klingendes Hundegebell herauskristallisiert sowie ein "I-Ah"-Rhythmus. Dieser Naturlaut des Esels generiert zum Pulsieren des menschlichen Lebensrhythmus und "erzählt" in der Phantasie des zur Frau werdenden Mädchens von der erwarteten Liebesbegegnung mit einem fremden Mann. Zu einem "Ohrwurm" wird, wenn sich aus dem Gekicher der Freundinnen ein akzellerierender Mädchenchor entwickelt, bei dem im Wechsel mit einer Vorsängerin der stampfende Arbeitsrhythmus nochmals in die imaginierte Vereinigung hinüberspielt. Wie dieses Hörspiel in seiner offeneren musikalischen Erzählweise nahelegt, könnte man (und sollte man) für sich endlos weiter einzelne Lesarten wort-sprachlich neu herausstellen und versuchen, einzelne archetypischen Erfahrungen, wie Angst, Liebe, Trauer, jeweils zu übersetzen. Die drei Realisatorinnen geben dazu noch vielerlei Elemente, vom Flugzeug- und Detonationsgeräusch oder Radiomeldungen angefangen bis zu Fröschegurren und höhnischem Lachen, an die Hand. Grace Yoon, Sainkho Namchilak und Iris Disse ist mit "Tunguska-guska" eine modern mytho-logische und akustisch musikalische Erzählsprache gelungen. Hörenswert!

30.10.91 - Hans-Ulrich Wagner / FK